Was ist eigentlich Wabi-sabi
Wabi-sabi ist ein ästhetisches Konzept
Wabi-sabi kann als ein umfassendes ästhetisches System bezeichnet werden. Sein Weltbild oder Universum ist selbstbezogen. Es bietet eine vollständige Annäherung an das elementare Wesen des Daseins (Metaphysik), geheiligtes Wissen {Spiritualität), emotionales Wohlbefinden (Geisteshaltung), richtiges Benehmen (Moral) und einen Blick und Gefühl für Dinge (Körperlichkeit). Es ist eingebunden in die Metaphysik des Zen-Buddhismus.
Leonard Koren, Matthias Dietz und Manuel Kniepe haben sich mit der Definition und der Auslegung beschäftigt und interpretieren die Bildsprache. Koren schreibt: Ursprünglich hatten die japanischen Worte wabi und sabi ganz unterschiedliche Bedeutungen. Sabi bedeutete eigentlich »fröstelnd«, »abgezehrt« oder »verwelkt«. Wabi bezeichnete ursprünglich das Trübsal des Lebens allein in der Natur, fern der Gesellschaft, und vermittelte die Vorstellung eines entmutigten, niedergeschlagenen und freudlosen Gemütszustandes. Um das 14. Jahrhundert verschoben sich allmählich die Bedeutungsinhalte beider Begriffe hin zu positiveren ästhetischen Werten. In den nachfolgenden Jahrhunderten haben sich die Bedeutungen von wabi und sabi so oft überkreuzt, dass die Linie, die beide voneinander trennt, jetzt in der Tat sehr unscharf geworden ist. Wenn Japaner heutzutage wabi sagen, meinen sie gleichzeitig sabi und umgekehrt. Meist sprechen die Leute einfach von wabi-sabi, …“
Will man aber wabi und sabi als getrennte Phänomene betrachten, würde man ihre Unterschiede folgendermaßen charakterisieren:
wabi verweist auf
- eine Lebensweise, einen geistigen Pfad
- das Innere, Subjektive
- ein philosophisches Gebäude
- räumliche Ereignisse
sabi verweist auf
- körperlich fassbare Gegenstände, Kunst und Literatur
- das Äußere, Objektive
- ein ästhetisches Ideal
- zeitliche Ereignisse
Zusammenfassend kann man sagen, dass es immer um Dinge (= Sachen, Gegenstände, Objekte) und ihre Schönheit geht.
- Wabi-sabi bezeichnet die Schönheit unvollkommener, vergänglicher und unvollständiger Dinge.
- Wabi-sabi bezeichnet die Schönheit anspruchsloser und schlichter Dinge.
- Wabi-sabi bezeichnet die Schönheit unkonventioneller Dinge.
Die Attribute der Bildsprache
Wie aber jetzt überträgt man das bisher Bekannte auf eine Bildsprache, auf die eigene Fotografie?
Loenard Koren gibt dazu diese Erklärung. Er nennt es die stofflichen Qualitäten des wabi-sabi:
Hinweis auf den natürlichen Prozess.
Wabi-sabi-Dinge sind Ausdruck erstarrter Zeit. Sie sind aus Materialien hergestellt, denen die Einwirkung der Witterung und menschlicher Behandlung deutlich anzumerken ist. Sie registrieren Sonne, Wind, Regen, Hitze und Kälte, indem sie sich verfärben, rosten, anlaufen, Flecken bekommen, sich verziehen, einlaufen, schrumpfen und rissig werden. Ihre Kerben, Kratzer, Druckstellen, Schrammen, Dellen, Abblätterungen und anderen Formen der Abnutzung sind Zeugnis der Geschichte ihrer Behandlung und Misshandlung. Auch wenn wabi-sabi-Gegenstände kurz vor ihrer Entmaterialisierung (oder Materialisierung) stehen mögen und im Laufe der Zeit äußerst schwach, brüchig oder trocken geworden sind, besitzen sie immer noch unvermindertes Gewicht und Charakterstärke.
Unregelmäßig.
Wabi-sabi-Gegenstände stehen dem, was gemeinhin als guter Geschmack postuliert wird, gleichgültig gegenüber. Da wir bereits wissen, wie die »korrekten« Gestaltungslösungen aussehen, bietet wabi-sabi uns mit Bedacht die „falschen“ Lösungen an. Demzufolge erscheinen Gegenstände mit wabi-sabi-Eigenschaften manchmal als seltsam, ungestaltet, unhandlich oder sogar hässlich. Wabi-sabi-Objekte können Einwirkungen eines Unfalls zur Schau stellen, wie eine zerbrochene Schale, die wieder zusammengeklebt wurde. Oder sie können das Ergebnis zufälliger Abläufe sein, wie beispielsweise die unregelmäßigen Muster, die durch bewusstes Manipulieren des Computerprogramms einer Webmaschine zustande gebracht wurden.
Vertraut.
Wabi-sabi-Gegenstände sind gewöhnlich klein und kompakt, still und nach innen gerichtet. Sie locken einen herbei, als wollten sie sagen: Komm' näher, berühre mich, stelle eine Beziehung zu mir her. Sie regen dazu an, die psychische Distanz zwischen dem einen und dem anderen Gegenstand, zwischen Menschen und Dingen zu verringern.
Bescheiden.
Wabi-sabi-Gegenstände wirken ungekünstelt und erwecken den Eindruck, als könnten sie nur so und nicht anders aussehen. Sie posaunen nicht aus »Ich bin wichtig!« oder heischen danach, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Sie sind bewusst zurückhaltend und bescheiden, doch nicht ohne Präsenz oder stille Autorität.
Erdverbunden.
Gegenstände mit wabi-sabi-Eigenschaften können grob und roh erscheinen. Sie sind gewöhnlich aus Materialien gefertigt, denen die Nähe zum ursprünglichen Naturzustand noch deutlich anzusehen ist, die in ihrer Naturbelassenheit von reicher Struktur sind und deren raue Oberfläche den Tastsinn anspricht. Zuweilen ist es nicht mehr möglich, die hinter ihrer Herstellung stehende Kunstfertigkeit zu erkennen.
Dunstig-Trübe.
Wabi-sabi-Gegenstände verfügen über Eigenschaften wie Unbestimmtheit, Verschwommenheit oder Durchlässigkeit, wie sie Dingen eigen sind, die sich dem Nichts nähern (oder aus ihm entstehen): Scharfe Kanten werden allmählich stumpf; einst handfeste Körperlichkeit erscheint beinahe schwammartig; einst leuchtend gesättigte Farben verblassen zu schlammigen Erdtönen oder schimmern wie der neblige Dunst des Morgengrauens und der Abenddämmerung. Wabi-sabi kommt zum Ausdruck in einem unendlichen Spektrum an Grautönen (graublaues Braun, silbergraues Schwarz, indigoblaues gelbliches Grün ...), Brauntönen (schwärzliches, tiefbraun getöntes Blau), gedämpften Grüntönen und in Schwarzschattierungen (Rotschwarz, Blauschwarz, Braunschwarz, Grün schwarz ...).
Einfach.
Einfachheit ist ein Hauptzug der wabi-sabi Gegenstände. Als äußerste Einfachheit gilt natürlich das Nichts. Aber vor und nach dem Nichts ist Einfachheit gar nicht so einfach. Die Einfachheit von wabi-sabi lässt sich vermutlich am besten beschreiben als die Art Anmut, die ein Mensch von unauffälliger, zurückhaltender und warm herziger Intelligenz ausstrahlt, Die Haupttaktik dieser Intelligenz besteht in der Sparsamkeit der Mittel nach dem Motto: Beschränke alles auf das Wesentliche, aber entferne nicht die Poesie. Halte die Dinge sauber und unbelastet, aber lasse sie nicht steril werden.
Manuel Kniepe definiert folgende sechs Attribute der Bildsprache:
- Vergänglichkeit
- Imperfektion
- Unvollständigkeit
- Natürlichkeit
- Simplizität
- Unergründlichkeit
Die schwierige Aufgabe ist es nun – um eben ein wabi-sabi-Bild zu kreieren – alle diese Attribute, Bedeutungen des Begriffs wabi-sabi in einem Bild unterzubringen. Ich benutze dazu die Adjektive und gebe dazu einige Beispiele:
Vergänglich.
Verwitterung, Bewuchs, Patina, Überwucherung, abgeplatzte Putz, zerbrochen, verwelkt, gealtert, morsch, bemoost, rostig …
Nicht perfekt.
fototechnische Fehler, Verwahrlosung, Schmutz,
Unvollständig.
Asymmetrie, Schräglage, starker Anschnitt von Objekten
Natürlich.
keine Effekte, keine verstärkten Farben
Einfach.
geringe Tiefenschärfe, Fokussierung auf Details, Reduzierung der Farbsättigung, Abdunklung
Unergründlich.
Unschärfe, Abdunklung, Unterbelichtung, verringerter Kontrast- und Tonwertumfang, Überbelichtung
Im Gegensatz zu Manuel Kniepe bin ich der Meinung, dass bei der Bildsprache des wasi-sabi die Gestaltphsychologie, wie sie in der westlichen Fotografie verwendet wird, auch in der Ästhetik des wabi-sabi verwendet werden kann und zu passenden Bildern beiträgt.
Dazu gehören Dinge wie:
Das Gesetz der Nähe.
Elemente mit geringen Abständen zueinander werden als zusammengehörig wahrgenommen.
Das Gesetz der Ähnlichkeit.
Einander ähnliche Elemente werden eher als zusammengehörig erlebt als einander unähnliche.
Das Gesetz der guten Gestalt (oder Einfachheit bzw. Prägnanz).
Es werden bevorzugt Objekte wahrgenommen, die in einer einprägsamen (Prägnanztendenz) und einfachen Struktur (= „Gute Gestalt“) resultieren
.Das Gesetz der guten Fortsetzung (oder der durchgehenden Linie).
Linien werden immer so gesehen, als folgten sie dem einfachsten Weg. Kreuzen sich zwei Linien, so gehen wir nicht davon aus, dass der Verlauf der Linien an dieser Stelle einen Knick macht, sondern wir sehen zwei gerade durchgehende Linien.
Das Gesetz der Geschlossenheit.
Es werden bevorzugt Strukturen wahrgenommen, die eher geschlossen als offen wirken.
Auch die Dynamische Symmetrie mit ihren Diagonalen und rechten Winkeln und den sich dadurch bildenden Dreiecken kann für diese Bildsprache eine unterstützende Wirkung entfalten.
Literatur
- Wabi-sabi für Künstler, Architekten und Designer: Japans Philosophie der Bescheidenheit : Dietz, Matthias, Koren, Leonard
- Wabi-Sabi. Woher? Wohin?: Weiterführende Gedanken für Künstler, Architekten und Designer : Koren, Leonard
- Nichts was bleibt: wabi-sabi für Fotografen und Bildgestalter : Kniepe, Manuel